Hamburg (ots) –
Dr. Dominik Hierlemann, Senior Expert der Bertelsmann Stiftung für Partizipation in Europa, zieht Bilanz zur „Konferenz zur Zukunft Europas“ (https://futureu.europa.eu/?locale=de). Die Stiftung hat in einer neuen Studie (https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/under-construction?no_cache=1&_cldee=D5H_4lMx5XG7-wt4JrsA-sKwfoPy_vcgg6DVAk0wTpvlDIXB6R1YZpFRJF9RrPG9&recipientid=contact-5a4411e64dcbe91180ee0050568a4fd7-da5406b99da74559b30f943c7adb7dee&esid=e96cf936-47cc-ec11-826f-0050568a4fd7) die wichtigsten Partizipationsinstrumente der EU untersucht.
Wie haben Sie den Einfluss der Beteiligungsinstrumente der EU gemessen?
Hierlemann: Wir haben uns sieben EU-Beteiligungsinstrumente mit sechs Analysekriterien angeschaut: die Sichtbarkeit der Instrumente, die Zugänglichkeit – also wie einfach ist es, mitzumachen -, die Repräsentativität, die Transnationalität der Instrumente. Da geht es um die Frage, inwieweit ein echter Austausch zwischen Deutschen, Polen und Italienern stattfindet. Dann Deliberation. Das zielt auf die Frage: Ist das Instrument der Partizipation diskursiv angelegt? Und das letzte Kriterium ist natürlich Einfluss. Wenn die Instrumente am Ende keine Wirkung entfalten, bringt alles nichts.
Bei der „Konferenz zur Zukunft Europas“ sind Bürgerdialoge das zentrale Element der Partizipation. Nach den Kriterien Ihrer Studie: hat das Prinzip funktioniert?
Hierlemann: Ich glaube, dass die europäischen Bürger-Panels, also die Bürgerdialoge, das Element in der Zukunftskonferenz war, das sogar am besten funktioniert hat. Ich möchte aber vorneweg schicken, dass die Bürger-Panels in der Zukunftskonferenz konzeptionell etwas anderes sind als die Bürgerdialoge, die wir in der Studie untersucht haben und die die Europäische Kommission seit vielen Jahren macht. Bisher kam eher ein Europa-affines Publikum zusammen, es entfalteten sich wenig Kontroversen. Es gab nur wenige transnationale Dialoge. Das hat die Kommission – und hier waren wir als Stiftung auch involviert – in Vorbereitung der Konferenz einmal anders ausprobiert: mit transnationalen Dialogen, wo Menschen aus verschiedenen Ländern zusammenkamen, und mit Online-Dialogen. Entscheidend war auch die Zufallsauswahl der Menschen. Und all diese Erfahrungen sind schließlich in die Konzeption der europäischen Bürger-Panels für die Zukunftskonferenz eingeflossen.
Es gab vier Panels, die das gesamte Themenspektrum der Konferenz abgedeckt haben und in jedem gab es 200 zufällig und weitgehend repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus ganz Europa. Das sagt sich so leicht, aber das ist ein enorm großer logistischer Aufwand, erst einmal die Bürger anzurufen, anzusprechen, sie davon überzeugen, dass es ein ernsthafter Prozess ist.
Das hat funktioniert. Die Zukunftskonferenz war ein Novum. Es hätte aus meiner Sicht durchaus mehr Deliberation geben können: noch mehr Nachdenken, mehr Reflexion, mehr Austausch. Die Themen waren zu breit und dementsprechend gehen auch die Vorschläge in alle möglichen Richtungen. Spannend und herausfordernd war, die Verbindung zu schaffen zwischen diesem partizipativen, deliberativen Instrument mit der repräsentativen Demokratie, wie es sich in der Plenarversammlung der Zukunftskonferenz widergespiegelt hat.
Das Novum war, dass es nun Bürgerinnen und Bürger aus ganz Europa sind, aus allen EU Mitgliedstaaten. Und das hatte in vielen Momenten wirklich etwas sehr, sehr Bewegendes.
Nun gibt es die finalen Empfehlungen, die seit dem 9. Mai den EU-Organen zur Praxisumsetzung vorliegen und nun in konkrete EU-Politik münden sollen. Zeichnen sich schon erste Schwerpunkte ab?
Hierlemann: Ich sehe drei Schienen für die weitere Diskussion: Erstens Partizipation als Thema an sich, mehr Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene. Die Europäerinnen und Europäer möchten mehr Mitsprache in der europäischen Politik. Sie wollen so etwas wie eine Zukunftskonferenz öfter – mit zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern und mit einem wirkungsvollen Einfluss. Da bin ich zuversichtlich, dass die europäischen Institutionen ihren Zugang zu Bürgerbeteiligung weiterentwickeln und verbessern werden. Das zweite sind alle policy-Fragen, also die inhaltlichen Themen, das reicht von Umweltschutz zu Sicherheitspolitik, Wirtschaft, Sozialpolitik. Und die dritte Schiene ist die ganz große Frage: Wie geht es weiter mit der EU und wie sieht die Zukunft der europäischen Integration aus?
Was ich insgesamt bemerkt habe: die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Bürger-Panel wollen nicht weniger europäische Integration, sondern mehr Europa. Sie wollen ein stärkeres Europa mit den entsprechenden Institutionen.
In Ihrer Studie haben Sie auch drei Lücken identifiziert, wo man jetzt ansetzen kann. Eine ist die Performancelücke. Da sind auch die Presse und die Öffentlichkeit gefragt. Wie schafft es die EU, die komplexe Arbeit und die Strukturen verständlich nach außen zu vermitteln?
Hierlemann: Wir haben drei Lücken identifiziert, erstens eine Bewusstseinslücke. Die Bürgerinnen und Bürger wissen wenig über die EU. Eine Performanzlücke, also eine Lücke zwischen Partizipationsrhetorik und Partizipationsrealität, zwischen Anspruch und Wirklichkeit und drittens eine Lücke des politischen Willens, den es braucht, um den Beteiligungsinstrumenten wirklich zur Geltung zu verhelfen. Und alle drei hängen miteinander zusammen. Wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, dass es die Instrumente gibt, machen sie auch nicht mit und dann wird das nicht ernst genommen von der Politik. Nur andersherum kann man die Geschichte genauso erzählen. Wenn die Instrumente keine Wirkung erzielen, ist natürlich mein Interesse als Bürger auch nicht besonders hoch, überhaupt mitzumachen.
Was spannend ist, das haben Sie angesprochen, ist, dass die EU tatsächlich Neues ausprobiert. Es gibt da eine große Offenheit, Demokratie anders zu leben, als es in der Vergangenheit der Fall war. Welche Rolle können jetzt neue Formate der Bürgerbeteiligung spielen? – Ich denke, eine sehr große Rolle.
Und ich glaube, die Debatte um eine europäische Öffentlichkeit ist letzten Endes eine fast schon akademische, es gibt ja diese Öffentlichkeit. Das sehen wir derzeit mit dem Krieg in der Ukraine. Die entscheidende Frage: Wie bringen wir Bürgerinnen und Bürger aus unterschiedlichen Ländern zusammen? Dafür braucht es neue Formate. Wie schaffen wir das digital, so dass es attraktiv ist, mitzumachen, auch für unterschiedliche Generationen? Und wie gelingt es EU-Institutionen tatsächlich Wirkung zu erzielen und Wirkung auch zu zeigen? Das ist eine große Aufgabe, aber für die Demokratie insgesamt ist es ein großer Job.
Differenziert haben Sie das ja auch in der Studie noch mal abgefragt. 32 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger ist sich demnach unsicher, inwieweit die eigene Stimme zählt in der Politik. Zurück zur Transnationalität und dem Erfolg des Diskurses: Auf der Plattform war es möglich, in der eigenen Muttersprache zu kommentieren und Ideen einzureichen.
Hierlemann: Die Plattform war gut, weil man in der eigenen Muttersprache teilnehmen konnte, sofort übersetzt wurde und es dadurch wirklich zum ersten Mal auch einen (transnationalen) Austausch geben konnte. Nicht so gelungen war, dass über die Plattform überwiegend die üblichen Verdächtigen angesprochen wurden und sie war schwierig zu bedienen. In der Studie schlagen wir vor, ein Hub der Partizipation für alle Beteiligungsinstrumente zu eröffnen, mit einem Zugang auf europäischer Ebene.
Aufgabe der Institutionen ist es jetzt, kein digitales Partizipationsmonstrum zu entwickeln, sondern etwas, was durchaus spielerisch, aber auch sehr informativ daherkommt. Es darf keinen ausschließen bei der Bedienbarkeit.
Sie haben den Ukraine-Krieg schon angesprochen. Beobachter sagen, dass nicht zuletzt auch ein Kampf zwischen Diktatur auf der einen und Demokratie auf der anderen Seite ausgetragen wird. Welche Rolle spielen Beteiligungsinstrumente wie die Konferenz?
Hierlemann: Eine große. Das ist meine persönliche Meinung. Es ist die Stärke der Demokratie, dass wir selbstkritisch mit dem Funktionieren vor allem der repräsentativen Demokratie umgehen. Das wir uns fragen, ob sie in der Krise ist. Dieses hohe Maß an Selbstreflexion ist eine Stärke, dass wir uns unsere Partizipationsinstrumente kritisch anschauen und uns fragen: Können wir das besser machen? In einer Autokratie werden Institutionen nicht in Frage gestellt und es gibt keine Debatte. Wir sollten allerdings nicht den Fehler machen, neue und alte Formen der Demokratie gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil: Sie bestärken sich gegenseitig. Die Demokratie von morgen wird anders aussehen als die von heute.
Was begeistert Sie persönlich auch an Europa und den europäischen Werten?
Hierlemann: Ich bin ein überzeugter Europäer. Europa, die EU, ist eines der politisch tollsten Dinge, die wir haben. Wenn Bürgerinnen und Bürger aus ganz unterschiedlichen Ecken Europas zusammenkommen, sehen wir, dass wir Werte haben, die uns verbinden: Der Wert von Freiheit, Gleichheit, Gleichberechtigung, Solidarität. Wenn wir im globalen Wettbewerb uns bewahren wollen, wenn wir als Deutsche oder als Italiener, Franzosen, Polen weiter eine Rolle spielen möchten, können wir das nur gemeinsam mit Europa machen.
Herr Hierlemann, herzlichen Dank für das Gespräch!
Zur Forschung: Der multimethodische Ansatz (https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/under-construction?no_cache=1&_cldee=D5H_4lMx5XG7-wt4JrsA-sKwfoPy_vcgg6DVAk0wTpvlDIXB6R1YZpFRJF9RrPG9&recipientid=contact-5a4411e64dcbe91180ee0050568a4fd7-da5406b99da74559b30f943c7adb7dee&esid=e96cf936-47cc-ec11-826f-0050568a4fd7) besteht aus einer repräsentative Bevölkerungsumfrage und einem quantitativen Survey. Befragt wurden 51 EU-Demokratie-Experten, Professorinnen und Professoren, Think Tanker aus ganz Europa. Dazu kommen Leitfaden-Interviews mit mehr als 40 politischen Entscheidungsträgern, Entscheidungs-Vorbereiter und auch anderen Think Tanks.
Analysiert wurden die Partizipationsinstrumente der EU: die Petition, der Europäische Ombudsmann oder -frau, die sogenannten Bürgerdialoge, die Europäische Bürgerinitiative, Konsultationen und die Wahlen zum Europäischen Parlament. Die Instrumente wurden anhand eines Analyserasters untersucht, um die Funktionsweise und den Erfolg der Instrumente vergleichen zu können.
Was dem Forschungsteam bei der Studie wichtig ist: Ziel ist nicht einfach ein Vergleich der Instrumente im Einzelnen, sondern welchen Einfluss die Beteiligungsformen in der Summe entfalten, wenn alle Instrumente gemeinsam betrachtet werden. Ein Fazit: Im Ergebnis gleichen die Beteiligungsinstrumente der EU „eher einem Flickenteppich als einer kohärenten Partizipationsinfrastruktur“.
Über ein Jahr lang tauschten sich Europäerinnen und Europäer bei der „Konferenz zur Zukunft Europas“ (https://futureu.europa.eu/?locale=de) aus und diskutierten, in welchem Europa sie gerne leben möchten. Hier geht es zu weiteren Statements von Dr. Hierlemann im Videobeitrag des FuturEU-Teams (https://www.presseportal.de/pm/159651/5224961).
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In welchem Europa wollen wir künftig leben? – Mit der Konferenz zur Zukunft Europas bieten das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission Ihnen die Gelegenheit der Partizipation, um gemeinsam die Herausforderungen und Prioritäten Europas zu diskutieren. Rund um die Konferenz veröffentlicht das FuturEU-Team aktuelle News, fundierte Erklärstücke in multimedialen Formaten für Ihre Berichterstattung. Dieses Hintergrundwissen bereitet die teilnehmenden Europäerinnen und Europäer gut auf die Konferenz vor, um die Zukunft Europas mitzugestalten. #TheFutureIsYours (https://twitter.com/hashtag/TheFutureIsYours)
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