Hamburg (ots) –
Dr. Nils Minkmar arbeitet als selbstständiger Autor und Publizist in Frankreich und Deutschland. Im Interview mit FuturEU spricht Minkmar über die Rolle von Deutschland und Frankreich in der EU sowie über kulturelle Antworten auf Fragen zur europäischen Identität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa.
Die französisch-deutsche Achse in Europa erscheint heute wichtiger denn je. Worin besteht aus Ihrer Sicht das Wertefundament der deutsch-französischen Partnerschaft?
Dr. Nils Minkmar: Wir erleben gerade eine spannende Zeit: Nicht erst seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, auch durch die Politik von Putin wird das europäische Selbstverständnis herausgefordert und dialektisch geschärft. Themen wie Meinungsfreiheit, soziale Gerechtigkeit, der Rechtsstaat, die Freiheitsrechte sind die Grundprinzipien der Französischen Revolution. Und um die muss man sich schon kümmern. Man muss für die europäische Lebensweise einstehen. Eine freie Lebensweise, wo nicht sehr viele Menschen im Elend leben müssen oder in Furcht. Diese europäischen Werte werden von Frankreich und Deutschland im Moment am besten verkörpert.
Historisch kommt Frankreich und Deutschland eine besondere Rolle zu. Was unternehmen die beiden Staaten innerhalb Europas, um dieses Wertefundament zu erhalten und zu stärken?
Minkmar: Europa ist mit einer ganzen Reihe neuer geopolitischer und kultureller Herausforderungen konfrontiert. Früher, als die USA noch ein starkes Vorbild waren, haben beide Hauptstädte, Bonn und Paris, immer nach Amerika geschaut. Und mit Berlin ändert sich das nun sehr stark; man erkennt, dass auch osteuropäischen Staaten unsere Partner sein können. Man orientierte sich lange Zeit an den Großmächten und hat sich mit denen auf Kooperationen in Bereichen wie Militär, Wirtschaft und im Medienbereich konzentriert. Und wenn man das jetzt europäisch aufstellen möchte, ergeben sich eine ganze Reihe von Themen: Der europäische Medienmarkt zum Beispiel. Wie schützt man die öffentlich rechtlichen Anstalten, damit man eine gute mediale Versorgung hat? Sowohl Deutschland als auch Frankreich haben noch ein sehr gut ausgebautes öffentlich-rechtliches System. Das ist keine Selbstverständlichkeit mehr. In Dänemark wurde es sehr stark zurückgefahren. Die Briten überlegen, es zurückzufahren. Das macht etwas mit einer Gesellschaft, mit den Kreativen und auch mit dem Publikum.
Ich wäre ein großer Freund von kulturellen Quoten, wie es sie in Kanada ja schon lange gibt, um sich gegen den übermächtigen Nachbarn im Süden noch abzugrenzen. Die europäische Kultur muss genauso gepflegt werden mit Quoten für europäische Produktionen. Oder der Bereich der Startup-Szene: Europa muss für Gründer attraktiv bleiben, damit sie nicht abwandern. In Frankreich ist das ein riesiges Problem, viele junge und gut qualifizierte Menschen wandern aus. Wir müssen zusehen, dass man in Europa zusammen bleibt und sich neu erkundet, dann ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten.
Europa ist auch immer noch ein Sehnsuchtsort. Die Menschen fliehen vor Naturkatastrophen, vor wirtschaftlichen Problemen, Krieg, Hunger. Unternehmen Frankreich, Deutschland und die EU-Staaten genug, um den Menschen zu helfen?
Minkmar: Nein, das ist ein Problem. Eine Ursache liegt wohl in einem falschen Verständnis von Europa, der „Festung Europa“ oder Europa als einer Art Grand Hotel, ein Palast, zu dem nur bestimmte Leute Zutritt haben. Das ist psychologisch überfrachtet und daran muss man arbeiten.
Ist das eher eine ethische Frage oder eine Frage der Identität Europas?
Minkmar: Wenn wir von Europa und dem römischen Imperium aus einer Wurzel sprechen, so sprechen wir ja über den gesamten Mittelmeerraum und Vorderasien. Europa war immer schon durchlässig und das wird es auch bleiben müssen. Man muss gar keine Angst vor Zuwanderung haben. Europa muss auch ein etwas besserer Nachbar sein. Die Ukraine-Krise offenbart das dieser Tage, aber ich denke auch an den Maghreb. Ich habe den Eindruck, da ist Europa sehr stark mit Komplexen und Ängsten behaftet. Hier muss sich dringend etwas tun durch Zuwanderungs- und Qualifizierungsprogramme für einen besseren Austausch.
Sie sprechen eine kulturelle Spaltung in der Gesellschaft an. Das betrifft auch neue Bewegungen wie das Woke-Movement, Fridays for Future aber auch die Gender-Debatte. Es gibt auf der einen Seite ein Europa, das sich durch eine kulturelle Vielfalt und große Diversität auszeichnet. Auf der anderen Seite fühlen sich viele in ihrer historisch, religiös oder kulturell geprägten Identität regelrecht angegriffen durch diese neuen Bewegungen. In Frankreich treten die Gelbwesten auf den Plan, in Deutschland die AfD. Was tut Europa um dieser kulturellen Spaltung etwas entgegenzusetzen?
Minkmar: Das ist, glaube ich, im Moment sicherlich die brisanteste Frage. Im französischen Wahlkampf hat das ja wirklich starke Dimensionen erreicht. Die Frage der Zuwanderung ist eng verbunden, wie Sie sehr richtig sagen, mit der Suche nach Identität: Wer sind wir eigentlich? Es gibt, wie ich finde, auch viele falsche Bilder, nostalgische Bilder von Frankreich zum Beispiel. Migration und Wanderung waren früher kein so großes Thema, es gab Migration, aber damals von Nord- und Ostfranzosen. Es gab Elsässer, Korsen und Bretonen. Aber diese Erfahrung und das Bewusstsein, dass Europa sich zusammensetzt aus verschiedenen Kulturen und trotzdem eine Nation bilden kann, das gilt aus meiner Sicht nach wie vor. Gerade verändert sich ganze Welt verändert. Und von diesem Wandel profitieren wir enorm.
In Frankreich ist der Begriff der Nation stark geprägt von der Aufklärung und vom Rationalismus der Französischen Revolution. Auf die deutsche Kultur hatte vor allem die Romantik großen Einfluss, die aus England herüber kam. Der Mensch lebt dem romantischen Ideal nach im Einklang mit der Natur. Dieser Kulturbegriff erfährt heute eine Renaissance: schaut man auf die Klimaschützer oder die Taxonomie-Debatte zur Einstufung der Atomenergie in Frankreich. Solche Debatten erscheinen inzwischen ideologisch aufgeladen. Es finden gesellschaftliche Glaubenskriege im Alltag der Menschen statt. Was wäre eine kulturelle Antwort auf diese Konflikte?
Minkmar: Erst einmal sind ja Konflikte in der Gesellschaft etwas Produktives. Aber ich hatte oft den Eindruck, dass es vor allem auf der rechten Seite Frust über die Nationalstaaten gibt. In Frankreich die Gelbwesten, in Deutschland die AfD und andere – diese Entwicklung speist sich auch aus dem Frust, dass der Staat nicht mehr diese autoritäre, väterliche Rolle spielen kann, Schutz zu gewähren. Viele haben das Gefühl, dass die Spielregeln unfair sind und dass die Globalisierung ihnen etwas wegnimmt. Daraus resultiert eine Frustration über die Schwäche des Nationalstaats. Die Politik hat viel weniger Einfluss als früher. Aber das ist eine Sache, die Politiker unheimlich schwer eingestehen können.
Ich glaube, wenn es gelingt, die europäische Ebene als neuen Akteur vorzustellen, ließe sich viel von dieser Nervosität auch wieder binden. Diesen Bezugsrahmen sollte man auch im Alltag herstellen. Für diejenigen, die nicht reisen wollen, könnte man europäische Gäste in Talkshows wie „Anne Will“ oder in das französische Pendant einladen. Es geht darum, Europa viel stärker in die Lebenswelt einzuführen und dadurch eine Faszination aufzubauen. Ich glaube, das würde sehr helfen.
Herr Minkmar, herzlichen Dank für das Gespräch!
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